Dienstag, 26. April 2011

Tag 244


Noten geben. Ziemlich genau ein Jahr nach meinen Abiprüfungen lerne ich echte Lehrerprobleme kennen. Yuris aus der vierten Klasse hat sich auf vier von fünf Examens-Aufgaben perfekt vorbereitet, aber wegen dieser einen dummen Aufgabe muss ich ihr eine schlechte Note ‘reindrücken. Luis-Mario aus der ersten ist ein sehr intelligentes Bürschchen, dessen (A-)Sozialverhalten jedoch seines Gleichen sucht (und nicht findet). Welche Note, welche Note?
Erstmal das Nummernsystem verstehen, nach welchem hier die Noten in zig verschiedenen Kategorien irgendwie prozentual verrechnet und am Ende zu einer großen Gesamtnote vereint werden. Da werden Erinnerungen wach: Wie ich vor sieben Monaten einem anderen Lehrer in gebrochenem Spanisch all diese Zahlen diktiert habe, damit er sie in den Taschenrechner eintippen konnte. Und jetzt sitze ich so da und haue selber auf meinen Taschenrechner ein; diesmal habe ich die Schüler selbst unterrichtet, auf Spanisch, und weiß bei jedem einzelnen Namen auf der Liste, um welches Kind es sich handelt. Stelle am Schluss glücklich fest, dass die Zahlen, die nach all dem Rechnen auf dem Display stehen auf wundersame Weise dieselben Noten widerspiegeln, die ich auch intuitiv vergeben hätte.

Mittags noch eine Lehrerkonferenz. Wir werden gebeten, mehr Professionalität an den Tag zu legen. Das bedeutet zum Beispiel: „Señorita Alejandra“ sagen statt „Alejaaandra“ rufen während der Schulzeit. Macht schon Sinn. Ist aber gar nicht mal so einfach, plötzlich in den Professionalitäts-Modus zu wechseln, wenn die Kollegen gleichzeitig die Mitbewohner, Nachbarn, besten Freunde hier sind.
Und vieles was ansonsten so besprochen wird, hat schon gar nichts mehr mit mir zu tun… Bald bin ich einfach nicht mehr hier. Komisches Gefühl.

Dann haut jemand mit dem Schloss gegen das Gittertor – diese Technik ersetzt bei uns die gute alte Klingel. Es ist der Mango-Mann mit seinem Straßenwägelchen. Glücklich kaufen wir Deutschen seinen Vorrat an süßen, reifen Mangos auf, die im Moment umgerechnet nicht mehr als fünf Cent kosten. Die Kolumbianer mögen lieber die, die noch grün sind und essen sie dann mit Salz und Zitronensaft. A mango a day keeps the doctor away; zu dem Schluss bin ich auf jeden Fall schon gekommen. Manchmal kaufe ich auch noch Früchte dazu, von denen man in Europa noch nie was gehört hat. Lulo? Nispero? Ciruela? Ah, das wird mir fehlen.


Nach dem Mittag- und Mango-Essen schwinge ich mich auf ein Mototaxi, das sich durch den Rush-Hour-Stau zwischen großen Bussen, Eselskarren und hupenden Autos hindurchschlängelt, mit Höchstgeschwindigkeit über eine leere Seitenstraße fegt und mich schließlich doch sicher und wohlbehalten zum Centro Historico bringt. Nachdem ich mich schon einmal fies am Motorradauspuff verbrannt habe (und deshalb nun stolze Besitzerin einer echten Cartagenera-Narbe am rechten Bein bin), weiß ich mittlerweile auch, dass man immer nach links absteigen muss.

Nun zu Fuß geht’s erstmal vorbei an rufenden Straßenverkäufern, die Rattengift, Snacks, Taschenrechner, frisch gepresste Säfte oder Lotterie-Lose anpreisen. Kann nicht widerstehen und kaufe mir ein köstliches Buñuelo, ein frittiertes Teigbällchen – nur eins der zig verschiedenen Sorten von sogenannten „Fritos“, die rund um die Uhr an jeder Ecke feilgeboten werden. Zum Glück verbrennt man bei der Hitze auch mehr Kalorien ;) .

Hitze, oh ja. Es ist sehr heiß und sehr laut und alle Farben leuchten so schön im gleißenden Sonnenschein. Genauso würde man sich eine südamerikanische Stadt vorstellen, denke ich. Und während ich zufrieden meines Weges gehe, kriege ich zwischendurch noch das obligatorische „Tss, tss, ksch, ksch, mi reyna! Mi vida!“ zu hören. Haha, hoffentlich bekomme ich in Deutschland keine Komplexe, wenn mir plötzlich niemand mehr auf der Straße „Meine Königin! Mein Leben!“ nachruft.

Am Plaza de los Coches („Kutschenplatz“) setze ich mich auf eine Bank und packe mein geliebtes Tagebuch aus. Die beiden Bücher (eins ist nämlich schon vollgeschrieben) sind wohl mein wertvollster Besitz hier und das Durchblättern macht mindestens genauso viel Spaß wie das Reinschreiben.
Ich muss lächeln, als ich den Übergang von einem Eintrag zum nächsten lese.
„Und um mich herum: Dschungel. Nichts als majestätische, grüne Hügel von Dschungel.“, so endet der vierte April. Und direkt darunter der nur vier Tage jüngere Eintrag: „Liege in Traum-Karibik-Bucht im Tayrona-Park.“
Es erscheint mir ein bisschen surreal, dass das tatsächlich mein Tagebuch ist und mein Leben. Wie hat es mich schon wieder an so atemberaubende Orte verschlagen?

Bei all dem, was ich schon von Kolumbien kennenlernen konnte, stand noch eine Reise aus – die einzige, die ich schon geplant hatte als ich noch am Küchentisch in Düsseldorf saß. Nämlich die zur Ciudad Perdida. Der verlorenen Stadt.

Mitten im Dschungel der Sierra Nevada (der höchsten Küsten-Bergkette der Welt) ist man in den 70er Jahren auf die Ruinen dieses Ortes gestoßen, der tatsächlich für 400 Jahren verloren war: Versteckt unter dichtem Regenwald. Der Eingeborenen-Stamm der Tayrona, von denen heute noch Hunderte in der Sierra Nevada leben, hat dort zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert seine größte (bisher gefundene) Stadt gebaut. Aber selbst die Eingeborenen wussten nichts mehr von Teyuna, wie die Ciudad Perdida ursprünglich einmal geheißen hat, bis die Grabräuber sie wiedergefunden haben. Und seit ungefähr zehn Jahren kann man auch als Tourist hin. Ist allerdings kein Spaziergang.


Als alle Examen geschrieben und das erste Schulquartal offiziell beendet war, habe ich also ein (vor)letztes Mal meinen Rucksack gepackt und mich – die ermutigenden Worte von Freunden und Familie im Ohr (Papa: „Ich dachte, Du willst zum Abschluss vielleicht lieber was Schönes machen?“; Wilmer: „Du wirst tagelang durch unfreundliche Umgebung voller Moskitos laufen und diesen Rucksack dabei tragen. Und dafür bezahlst du Geld?!“ ) – auf den Weg nach Santa Marta gemacht; denn da sollte die Tour beginnen. „Lost City Trek“: Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie in einem Indiana-Jones-Film.

Und der einzige Weg, die Ciudad Perdida zu erreichen ist tatsächlich: Zu Fuß. Drei Tage rein in den Dschungel und zwei Tage Rückweg. Meine Gruppe bestand, abgesehen von den drei kolumbianischen Guides (ohne Guía darf man da grundsätzlich nicht rumirren), aus insgesamt 14 Personen und fünfeinhalb Nationen (Holland, Australien, Irland, USA, Deutschland, Ägypten); manche waren Freunde oder Verlobte oder Reise-Bekannte, andere wie ich alleine mit dabei. Spätestens am zweiten Abend aber, als wir alle zusammen bei Kerzenschein Lieder gesungen haben, sind wir sowieso zu einer großen, glücklichen Familie geworden ;) .
Sehr interessante Menschen waren da mit von der Partie, die Gespräche sind nie langweilig geworden. Wenn man denn Atem zum Sprechen hatte. Gleich am ersten Tag zum Beispiel ging es (in der karibischen Schwüle) so brutal bergauf, dass ich kurz gezweifelt habe, ob ich nicht doch besser direkt wieder umdrehe. Da ich erst einmal in meinem Leben einen solchen Mehrtages-Hike gemacht habe, war ich auch noch nicht besonders erfahren im Rucksackpacken. Die alten Hiking-Hasen haben mich zum Beispiel ausgelacht, weil ich Shampoo mitgenommen habe. Unnötiges Gewicht.

Während wir am Starttag noch an ein paar vereinzelten Häusern vorbeigekommen sind – und an zig ehemaligen Kokain-Feldern – ging es ab der ersten Übernachtung (in Hängematten unter einer Überdachung) tiefer und immer tiefer in den Dschungel. Dem Verlauf des Buritaka-Flusses folgend, den wir unzählige Male durchwaten und einmal in einem lustigen, wenn auch etwas furchteinflößenden  Wackelgestell überqueren mussten (siehe Foto), kamen wir unserem Ziel dann immer näher.



Und schließlich, an Tag Drei, hatten wir plötzlich nur noch die 1.200 moosüberwachsenen Steinstufen vor uns, die noch aus den alten Tayrona-Zeiten stammen.
Ein irres Gefühl, dass außer uns (und ein paar Soldaten, die dauerhaft in der verlorenen Stadt stationiert sind) wirklich niemand da war. Eine touristische Attraktion, die nur zu Fuß erreichbar ist bleibt glücklicherweise auch eine, die man in Ruhe genießen kann. Dass 2003 ein Touristen-Grüppchen mitten aus der Ciudad Perdida von Guerillas entführt wurde, habe ich (und somit auch mein Vater) glücklicherweise vorher nicht gewusst. Jetzt, wo das Militär da ist, war aber alles sicher, keine Sorge. Eine gute Gelegenheit, auch generell mal einzuwerfen, dass Kolumbien in den letzten Jahren zu einem ziemlich sicheren Land für Reisende geworden ist. Soll heißen: Ein Backpacker muss hier nicht mehr (aber auch nicht weniger) Vorsicht an den Tag legen, als zum Beispiel in Peru oder Equador.

Auf dem Haupt-Monument der Ciudad Perdida (siehe Foto), saß ich dann noch eine Weile mit ein paar wenigen andern. Genau da, wo die Tayronas vor Hunderten von Jahren, ihre wichtigsten Rituale abgehalten haben. Aber mehr noch habe ich einfach nur genossen, was um mich herum ist. Der Blick nach vorn: In der Ferne ein Wasserfall zwischen all dem Grün. Wenn ich mich zur Seite drehe: Ein in Nebel gehülltes Tal, rechts und links davon: Hügel, Hügel, Hügel… „Nichts als majestätische, grüne Hügel von Dschungel.“

Faszinierend, so tief im Regenwald zu sein und so weit weg von all den anderen Menschen. Manchmal, wenn wir mal wieder am Buritaka-Ufer entlangliefen, habe ich mir vorgestellt, wie das Ganze von Oben aussehen würde. Dschungel. Zoom: Ein Fluss im Dschungel. Zoom: Ein kleines Grüppchen von Menschlein, die da mitten durch all das Grün stapfen. Alle schmutzig und stinkend, aber sehr zufrieden. Am Ende des Tages kamen wir immer an einer breiten Fluss-Stelle oder einem Wasserloch vorbei. Zur willkommenen Abkühlung gab’s grundsätzlich noch eine kleine Show gratis dazu, weil die waghalsigen Jungs sich die höchsten Klippen zum Rückwärtssalto-Machen ausgesucht haben. Und abends dann, schön geduscht (und mit nach Shampoo duftenden Haaren – ha!), jeder in seinem einzigen sauberen Outfit eingemümmelt: Holländische Kartenspiele lernen, lecker essen Liedchen trällern, spannende Zukunftspläne und lustige Reise-Erlebnisse austauschen…

Als wir dann am fünften Tag wieder in der Zivilisation gelandet sind haben wir uns alle im gleichen Hostel eingenistet und uns bei bester Pizza Kolumbiens (gefunden in einer finst’ren Seitengasse Tagangas) selbst gefeiert. Ein paar von der Truppe sind mich in den Wochen danach sogar noch in Cartagena besuchen gekommen und für einige von uns ging’s am nächsten Morgen auch direkt zusammen weiter: In den Tayrona-Nationalpark. Wo Dschungel auf karibisches Meer trifft. Wo außerdem gerade ein Freiwilligendienst-Seminar stattfand, an dem meine beiden Collegas Gitti und Daniela sowie noch elf andere Deutsche teilgenommen haben, die mit ihren Freiwilligendienst über das weltwärts-Programm machen. Bin schön pünktlich zum Ende des offiziellen Seminarteils dazugestoßen, sodass uns drei gemeinsame Tage blieben, in denen wir einfach nur entspannen konnten. Schnorcheln, schwimmen, Gitarre am Strand. Hier also die Traum-Bucht. Ein würdiger Abschied vom karibischen Meer, fand ich.


Und dann verblieben noch zweieinhalb Wochen für einen würdigen Abschied von Cartagena. Besonders von San Francisco, unserem Stadtviertel. Eigentlich ist es nicht besonders empfehlenswert, hier mit der Kamera spazieren zu gehen, aber gestern hab‘ ich es dann (mit einem Freund, der auf mich aufgepasst hat) zum Abschluss doch mal gemacht, damit ich ein bisschen zeigen kann, wo ich hier eigentlich lebe:

Das große Holzhaus ist unser Colegio (mein Zuhause).


Die "Tienda", der Tante-Emma-Laden, an dem wir tagein, tagaus unsere Milch und unsere Schokolade kaufen. Manchmal auch Cola.



Mario und Silvia, die Tienda-Besitzer und ihr Sohn Gabriel, einer unserer Schüler.




Das ist meine Straße, sie sieht sehr anders aus, als das beeindruckende Stadtzentrum von Cartagena, aber ich liebe San Francisco. Ich weiß genau, an welchen Stellen man über Löcher springen muss, um nicht in einer Dreckspfütze zu landen und welches Kind mir aus welchem Haus "Seño, Seño!" zurufen wird.

Und jetzt ist meine Zeit hier also wirklich vorbei.

Ich habe gelernt, eine Sprache fließend zu sprechen, die ich schon können wollte seit ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal ein Shakira-Lied gehört habe (die Gute war hier vor einer Woche quasi um die Ecke und hat in einem Nachbarsviertel den Grundstein für eine weitere Schule gelegt – da schließt sich der Kreis). Den Gasherd kann ich mittlerweile furchtlos-routiniert anmachen und anschließend sogar echtes Essen darauf zuzubereiten. Mir sind ein paar Lichter über meine Schwachstellen aufgegangen, aber zum Glück auch über die Stärken – ich würde behaupten, ich kenne mich selbst jetzt um Einiges besser. Habe mich erfolgreich darin geübt, den Taxi-Preis auf ein Minimum herunterzuhandeln. Und sämtliche Zahlen durch 2,5 zu teilen (1 Euro = 2.500 kolumbianische Pesos). Sich gegen die wilde Horde im Klassenraum durchzusetzen war bis zum Ende eine Herausforderung, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich am Anfang dachte, ich würde niemals alleine unterrichten können. Zum Glück lag ich falsch. Und kann sogar einen Haufen Liebesbriefe von den Kindern mit nach Hause nehmen. „Beste Lehrerin der Welt“ steht auf einem. Leicht übertrieben, aber sehr süß ;) .

Ich liebe das Gefühl, zur richtigen Zeit genau am richtigen Platz zu sein. Wenn ich mir diese acht Monate so ansehe, gibt es daran keinen Zweifel.
Irgendwie geht damit ebenso die Gewissheit einher, dass Gott auch nach Kolumbien gute Dinge mit meinem Leben vorhat und ich bin schon gespannt auf all das, was jetzt so kommt.


Aber morgen muss ich mich dann erstmal tatsächlich von meinen Freunden hier verabschieden. Am Wochenende haben sie mich schon mit einer kleinen Abschiedsfeier überrascht und mir ein Plakat mit Fotos und persönlichen Nachrichten von jedem Einzelnen geschenkt. Bisschen weinen hab ich also schon hinter, den Flughafen-Moment aber noch vor mir.

Es gibt hier jetzt Menschen, die mich sehr lieben und die ich sehr liebe. Von allem, was ich über meine Erlebnisse und Erfahrungen in Kolumbien erzählen könnte, bleibt das das Allerschönste.

Freitag, 1. April 2011

Tag 219


Kaum hatte mich der Arbeitsalltag wieder, wurde ich auch schon wieder zu einem Kurzurlaub gezwungen :) . Und zwar vom kolumbianischen Staat höchstpersönlich. Der hat nämlich gemeint, nach sechs Monaten wär auch mal der Ofen aus und ich solle kurz über eine Grenze und wieder zurück. Also: Panama, Venezuela, Ecuador, Peru, Brasilien? Nach viel Hin-und-her-überlege habe ich mich dazu entschieden, zwei Fliegen mit einer Klappe und viele Mosquitos mit meinen Händen zu schlagen: Ab nach Leticia, wo Kolumbien sowohl an Peru als auch an Brasilien stößt. Und die Grenzlinie? Der Amazonas.

„Amazon Basin“ war das einzige Kapitel in meinem zerfledderten Lonely Planet, bei dem ich immer seufzend gedacht habe „Verpasst.“. Dass ich da jetzt doch noch gelandet bin! Und nach Karibik-Traumständen, schneebedeckten Vulkanen und Kaffeezonenhügeln konnte ich so noch eine Facette dieses (schon fast übertrieben facettenreichen) Landes kennenlernen: Regenwald.
Als das Flugzeug gelandet ist, hat man aus dem Fenster tatsächlich nichts als ein Meer von grünen Bäumen gesehen. Ohne Ende. Leticia und das direkt angrenzende brasilianische Tabatinga sind die einzigen kleinen Städtchen weit und breit. Ansonsten gibt es ein paar Dörfer und viele Eingeborenen-Stämme. Irgendwo sogar noch Kannibalen, hab ich vernommen.
In Leticia gibt’s aber richtige Straßen und all das. Mit richtigen Motorrädern drauf, aber fast keinen Autos. Deshalb hab ich die Gelegenheit am Schopf ergriffen, mich endlich auf die Mototaxis zu trauen. Und durfte feststellen, dass es wahnsinnig viel Spaß macht. Mit einem klapprigen Attrappen-Helm auf dem Kopf durch ein Amazonas-Städtchen brettern – wenn mir bei meinen Vor-Abi-Klausuren jemand erzählt hätte, was ich ein Jahr später so machen würde.

Am ersten Tag ging’s direkt nach Santa Rosa, ein aus einer einzigen Straße bestehendes Dorf in Peru, das man durch eine Fünf-Minuten-Bootsfahrt erreichen kann. Eigentlich bin ich nur hin, um meinen Peru-Einreisestempel zu holen. Aber als mein Bootsfahrer mitten auf dem Amazonas angehalten hat, um mir links Brasilien, rechts Kolumbien und geradeaus Peru zu zeigen, war das auch nicht von schlechten Eltern.
Und am nächsten Tag eine Dschungel-Tour! Die größte Seerosenart der Welt bewundern. Einen Blick auf die rosanen Delfine erhaschen, die es nur im Amazonas gibt. An einer Liane schwingen (aber eigentlich nur fürs Foto posen). Zur Affeninsel schippern. Affeninsel? Tja. Da wurden Pippi-Langstrumpf-Träume wahr. Affen, die kleine Affenbabys tragen und sich dann auf Deine Schulter schwingen oder auf Deinen Kopf, oder – wenn man eine Banane in die Hand nimmt – auch gleich noch fünf Freunde mitbringen. War begeistert bis zu dem Moment, in dem zwei von den Viechern auf der Jagd nach der nächsten Banane gegen meine Kamera gesprungen sind. Aus der Hand gefallen, auf dem Boden gelandet, Objektiv eingedellt, kein Fotoschießen mehr möglich. Das hätte Herr Nilsson nie gemacht!
Ein paar vergossene Tränchen (Papas gute Kamera!) und ein Eingeborenentänzchen später habe ich dann aber beschlossen, meinen Dschungeltag trotzdem noch zu genießen.
Im wohl umweltfreundlichsten Örtchen der Welt (oder zumindest Kolumbiens: kein einziges Motor-Vehikel, dafür Mülltrennung) sind wurde gerade eine wichtige Fußball-Schlacht geschlagen: Kolumbien gegen Peru. Nicht die richtigen Nationalmannschaften. Aber richtige Kolumbianer und richtige Peruaner. Bemerkenswert übrigens, wie unterschiedlich die Leute in der Region im Vergleich zum Rest Kolumbiens aussehen!
Letzter Stopp: Puerto Alegría. Ich war schon deshalb glücklich, dass auch ein peruanisches Eingeborenen-Dorf mit auf dem Programm stand, weil ich ja irgendeinen Ort in Peru angeben sollte, in dem ich mich aufgehalten habe. Aber als wir dort ankamen wurde dieses Dörfchen in Sekundenschnelle zu meinem Lieblingsort am Amazonas  auserkoren. Da kam ein Haufen unglaublich süßer, kleiner Kinder gerannt und jedes mit Maskottchen. Schildkröte in der Hand, Faultier auf dem Arm, Äffchen auf dem Kopf wie eine Mütze. Und an einem Baum an einer Stoffleine: Ein kleiner Jaguar. Der war der Einzige, den wir nicht selber streicheln oder auf den Arm nehmen durften. Diese zuckersüßen Kinder waren ein so schöner Anblick, dass ich beschloss, meiner Kamera eine letzte Chance zu geben. Mit einer Erhörung meiner Stoßgebete hab ich zu dem Zeitpunkt eigentlich schon lange nicht mehr gerechnet. Wie dem auch sei. Von einem Moment auf den andern hat sie – Delle im Objektiv hin oder her – einwandfrei funktioniert. Da hab ich schnell ein Foto vom Jaguar geschossen und Puerto Alegría noch lieber gehabt als vorher.
Montags bin ich dann wieder aus Peru „ausgereist“ und habe eine brandneue Kolumbien-Aufenthaltsgenehmigung gestempelt bekommen. Endlich muss ich mich nicht mehr fühlen wie eine Illegale kurz vor der Abschiebung :) . Dann noch mit einer auf der Dschungel-Tour-Freundin zum brasilianischen Dorf Benjamin Constant tuckern. In Brasilien gab’s nicht viel zu sehen, aber man konnte leckere Schokolade kaufen. Und auf einmal von Kindern umgeben zu sein, die auf Portugiesisch herumbrabbeln, hat mich daran erinnert, dass das Costeño-Spanisch unserer Schulkinder für mich am Anfang genauso ein unverständliches Kauderwelsch war. Wenn eins der Kinder jetzt was vor sich hinnuschelt und ich tatsächlich verstehe, was es will, bin ich manchmal richtig stolz auf mich.
Auch am Amazonas habe ich übrigens mitbekommen, was sich im Februar so am Nil abgespielt hat und als der Präsident sich endlich verzogen hatte, konnte ich aus einem Internetcafé im Regenwald eine Nachricht an meine Familie in Kairo schreiben. Schon die Wochen zuvor sind meine Eltern und Youssef abwechselnd als Exklusiv-Telefon-Reporter für mich eingesprungen. Und zum Glück gibt’s Spiegel-Online, denn von unserer kolumbianischen Tageszeitung waren keine tiefschürfenden Infos zu erwarten. Gegen den „Q’hubo“, so heißt das Blättchen, erstrahlt selbst die Rheinische Post in ganz neuem Glanz (wenn die Kinder im Kunstunterricht Zeitung auf dem Boden ausbreiten sollen, muss ich die Zeitungsblätter immer auf die „richtige“ Seite drehen, damit unser Klassenzimmer nicht mit nackten Q’hubo-Frauen gepflastert ist).
Nach vier Tagen Dschungel zurück – einmal diagonal über ganz Kolumbien – zur karibischen Küste. Dank Nebenwirkungen meiner Malaria-Präventions-Tabletten („Wie oft soll ich die nehmen?“ – Apothekerin: „Ach, hm, mach’s mal so dreimal am Tag!“) blieb mir auch zurück in Cartagena noch ein paar Tage das Gefühl erhalten, ich befände mich auf einem schaukelnden Amazonas-Bötchen. War aber auf jeden Fall richtig schön wieder „nach Hause“ zu kommen. Ich hatte meine Leute schon vermisst.
Und wer sind meine Leute eigentlich? Unsere kleine Hausgemeinschaft ist in den letzten Wochen auf ganze neun Personen angewachsen. Nachdem es im Januar nur Hugo und Lourdes, das Schuldirektoren-Ehepaar, und wir drei deutschen Mädels waren, haben wir wieder Zuwachs bekommen: Hugos Bruder Percy, frisch verheiratet, hat sich entschieden, weiterhin im Colegio zu arbeiten und hat seine Frau Aura gleich mitgebracht. Hugos und Percys Bruder Lucio ist einfach so für ein/zwei Monat mit von der Partie (somit haben wir jetzt drei Peruaner, drei Deutsche und drei Kolumbianerinnen im Haus). Und die dritte Kolumbianerin? Alejandra! Am Ende hat sich meine Zimmerkumpanin doch dazu entschieden, nach Cartagena zurückzukehren. Nach dem traurigen Am-Flughafen-verabschieden gab’s also ein umso glücklicheres Am-Flughafen-abholen und das Etagenbett in meinem Zimmer ist wieder auf beiden Stockwerken bewohnt :) .
Außerdem: Unsere Freunde hier aus dem Viertel. Niemand lacht so laut wie Merly, die zwei Häuser weiter wohnt und auch im Colegio arbeitet. Noch näher, nämlich direkt gegenüber wohnen Henry und Wilmer (Brüder und auch Lehrer hier) und ihre große Schwester Kety (deren zuckersüße Tochter Zarai schon ein paar mal für mein Kind gehalten wurde).  Die haben auch einen Balkon, auf dem man abends wunderbar die Brise genießen und das ganze Viertel überblicken kann. Und reden, reden, reden. Auch nachts noch an unserem gelben Gittertor zu stehen und zu quatschen ist jetzt schon ein Klassiker.
Und natürlich: Die Kinder. Ich bin noch bis zum Ende meiner Zeit hier die offizielle Englisch-Lehrerin für die Erst- bis Viertklässler. Das kann ganz schön herausfordernd sein (und ist mit Unterrichten an deutschen Grundschulen einfach nicht vergleichbar). Da kann es vorkommen, dass ich vor einem Haufen wahnsinnig süß aussehender Kinderchen stehe und sie tatsächlich richtig anschreie. Kann man sich kaum vorstellen, ne?  Aber wenn die Kinder ihrerseits schreien und einfach anfangen zu tanzen oder sich auf dem Boden zu wälzen muss man sich halt irgendwie Gehör verschaffen. Umso schöner dann die Unterrichtsstunden, wo wirklich alle zuhören und ich am Schluss sogar die schlimmsten Jungs auf die Smiley-Liste schreiben kann. Einen Zweitklässler, der mich (und nicht nur mich) letztes Jahr an den Rand der Verzweiflung getrieben hat, habe ich mittlerweile sogar richtig ins Herz geschlossen: Enoc (siehe allerletztes Foto).
Hier noch ein paar Bilder und Videos von all diesen schönen Menschen:
San Francisco pur: Die Musik unserer Nachbarn ist normalerweise noch sehr viel lauter als in diesem Video (bzw. es können auch mal drei verschiedene Lieder von drei verschiedenen Nachbarn gleichzeitig sind). Hier war’s aber mal eine passende Untermalung für Gitti, Dani, Margarita und Henry beim Aufwärmen vor dem Fußballtraining. Und die am Schluss in frenetischen Jubel ausbricht ist meine Alejandris ;) .
Und Daniela, Wilmer und Gitti feilen dann in letzter Minute noch an der genialen Fußball-Strategie.

Wochenenddienst = Putzen, kochen, putzen, kochen, putzen, waschen, kochen, putzen. Hier sieht man mich mit meinem guten Freund, den Alien-Wischmop sowie Dani, die ihr Glück über den frischen Tannenbaum-Lappen kaum fassen kann.
(Beide Fotos von Daniela De Sabato)

Bei der Schülersprecher-Wahl durften alle Jahrgänge mitmachen, auch die Kindergartenkinder. Hier erklärt Profesor Percy gerade einem, wie man ein X macht :) .
Merly und die Kleinsten.
Brüder.





Tja, bei 90 Kinderchen kann man bei Schulschluss ganz schön erschöpft sein. Dann entspanne ich am liebsten auf meinem Lieblingsplatz, dem gelben Autoreifen am Spielplatz. Oder wir nutzen es aus, dass wir in so einer schönen Stadt leben…
Mit einer Burg, in deren dunklen Tunneln man sich wunderbar kreischend verlaufen und unter deren Fahnen man schön patriotische Fotos schießen kann.

Und mit Luxus-Hotels, in die man ja auch einfach so mal ‘reinspazieren kann. Dem folgendenden Bild haben wir den Titel gegeben:
„Wir leisten Freiwilligendienst in Kolumbien. Helfen auch Sie. Spenden Sie jetzt.“

Foto von Daniela De Sabato
Beide Fotos stammen vom letzten Wochenende, da hab ich nämlich einen kleinen Cartagena-Touri-Rundumschlag gemacht. Nach sieben Monaten endlich mal alles in dieser Stadt erkunden, was man schon seit dem ersten Monat ausprobieren wollte. Aber wichtiger als all das ist mir eigentlich, noch so viel Zeit wie möglich mit meinen Freunden hier zu teilen.

Und den Kindern. Von denen gibt's hier zu guter Letzt noch meine besten Fotos.





Ich bin glücklich. Hoffe sehr, all meine schönen Menschen am Rhein sind es auch. .