Dienstag, 26. April 2011

Tag 244


Noten geben. Ziemlich genau ein Jahr nach meinen Abiprüfungen lerne ich echte Lehrerprobleme kennen. Yuris aus der vierten Klasse hat sich auf vier von fünf Examens-Aufgaben perfekt vorbereitet, aber wegen dieser einen dummen Aufgabe muss ich ihr eine schlechte Note ‘reindrücken. Luis-Mario aus der ersten ist ein sehr intelligentes Bürschchen, dessen (A-)Sozialverhalten jedoch seines Gleichen sucht (und nicht findet). Welche Note, welche Note?
Erstmal das Nummernsystem verstehen, nach welchem hier die Noten in zig verschiedenen Kategorien irgendwie prozentual verrechnet und am Ende zu einer großen Gesamtnote vereint werden. Da werden Erinnerungen wach: Wie ich vor sieben Monaten einem anderen Lehrer in gebrochenem Spanisch all diese Zahlen diktiert habe, damit er sie in den Taschenrechner eintippen konnte. Und jetzt sitze ich so da und haue selber auf meinen Taschenrechner ein; diesmal habe ich die Schüler selbst unterrichtet, auf Spanisch, und weiß bei jedem einzelnen Namen auf der Liste, um welches Kind es sich handelt. Stelle am Schluss glücklich fest, dass die Zahlen, die nach all dem Rechnen auf dem Display stehen auf wundersame Weise dieselben Noten widerspiegeln, die ich auch intuitiv vergeben hätte.

Mittags noch eine Lehrerkonferenz. Wir werden gebeten, mehr Professionalität an den Tag zu legen. Das bedeutet zum Beispiel: „Señorita Alejandra“ sagen statt „Alejaaandra“ rufen während der Schulzeit. Macht schon Sinn. Ist aber gar nicht mal so einfach, plötzlich in den Professionalitäts-Modus zu wechseln, wenn die Kollegen gleichzeitig die Mitbewohner, Nachbarn, besten Freunde hier sind.
Und vieles was ansonsten so besprochen wird, hat schon gar nichts mehr mit mir zu tun… Bald bin ich einfach nicht mehr hier. Komisches Gefühl.

Dann haut jemand mit dem Schloss gegen das Gittertor – diese Technik ersetzt bei uns die gute alte Klingel. Es ist der Mango-Mann mit seinem Straßenwägelchen. Glücklich kaufen wir Deutschen seinen Vorrat an süßen, reifen Mangos auf, die im Moment umgerechnet nicht mehr als fünf Cent kosten. Die Kolumbianer mögen lieber die, die noch grün sind und essen sie dann mit Salz und Zitronensaft. A mango a day keeps the doctor away; zu dem Schluss bin ich auf jeden Fall schon gekommen. Manchmal kaufe ich auch noch Früchte dazu, von denen man in Europa noch nie was gehört hat. Lulo? Nispero? Ciruela? Ah, das wird mir fehlen.


Nach dem Mittag- und Mango-Essen schwinge ich mich auf ein Mototaxi, das sich durch den Rush-Hour-Stau zwischen großen Bussen, Eselskarren und hupenden Autos hindurchschlängelt, mit Höchstgeschwindigkeit über eine leere Seitenstraße fegt und mich schließlich doch sicher und wohlbehalten zum Centro Historico bringt. Nachdem ich mich schon einmal fies am Motorradauspuff verbrannt habe (und deshalb nun stolze Besitzerin einer echten Cartagenera-Narbe am rechten Bein bin), weiß ich mittlerweile auch, dass man immer nach links absteigen muss.

Nun zu Fuß geht’s erstmal vorbei an rufenden Straßenverkäufern, die Rattengift, Snacks, Taschenrechner, frisch gepresste Säfte oder Lotterie-Lose anpreisen. Kann nicht widerstehen und kaufe mir ein köstliches Buñuelo, ein frittiertes Teigbällchen – nur eins der zig verschiedenen Sorten von sogenannten „Fritos“, die rund um die Uhr an jeder Ecke feilgeboten werden. Zum Glück verbrennt man bei der Hitze auch mehr Kalorien ;) .

Hitze, oh ja. Es ist sehr heiß und sehr laut und alle Farben leuchten so schön im gleißenden Sonnenschein. Genauso würde man sich eine südamerikanische Stadt vorstellen, denke ich. Und während ich zufrieden meines Weges gehe, kriege ich zwischendurch noch das obligatorische „Tss, tss, ksch, ksch, mi reyna! Mi vida!“ zu hören. Haha, hoffentlich bekomme ich in Deutschland keine Komplexe, wenn mir plötzlich niemand mehr auf der Straße „Meine Königin! Mein Leben!“ nachruft.

Am Plaza de los Coches („Kutschenplatz“) setze ich mich auf eine Bank und packe mein geliebtes Tagebuch aus. Die beiden Bücher (eins ist nämlich schon vollgeschrieben) sind wohl mein wertvollster Besitz hier und das Durchblättern macht mindestens genauso viel Spaß wie das Reinschreiben.
Ich muss lächeln, als ich den Übergang von einem Eintrag zum nächsten lese.
„Und um mich herum: Dschungel. Nichts als majestätische, grüne Hügel von Dschungel.“, so endet der vierte April. Und direkt darunter der nur vier Tage jüngere Eintrag: „Liege in Traum-Karibik-Bucht im Tayrona-Park.“
Es erscheint mir ein bisschen surreal, dass das tatsächlich mein Tagebuch ist und mein Leben. Wie hat es mich schon wieder an so atemberaubende Orte verschlagen?

Bei all dem, was ich schon von Kolumbien kennenlernen konnte, stand noch eine Reise aus – die einzige, die ich schon geplant hatte als ich noch am Küchentisch in Düsseldorf saß. Nämlich die zur Ciudad Perdida. Der verlorenen Stadt.

Mitten im Dschungel der Sierra Nevada (der höchsten Küsten-Bergkette der Welt) ist man in den 70er Jahren auf die Ruinen dieses Ortes gestoßen, der tatsächlich für 400 Jahren verloren war: Versteckt unter dichtem Regenwald. Der Eingeborenen-Stamm der Tayrona, von denen heute noch Hunderte in der Sierra Nevada leben, hat dort zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert seine größte (bisher gefundene) Stadt gebaut. Aber selbst die Eingeborenen wussten nichts mehr von Teyuna, wie die Ciudad Perdida ursprünglich einmal geheißen hat, bis die Grabräuber sie wiedergefunden haben. Und seit ungefähr zehn Jahren kann man auch als Tourist hin. Ist allerdings kein Spaziergang.


Als alle Examen geschrieben und das erste Schulquartal offiziell beendet war, habe ich also ein (vor)letztes Mal meinen Rucksack gepackt und mich – die ermutigenden Worte von Freunden und Familie im Ohr (Papa: „Ich dachte, Du willst zum Abschluss vielleicht lieber was Schönes machen?“; Wilmer: „Du wirst tagelang durch unfreundliche Umgebung voller Moskitos laufen und diesen Rucksack dabei tragen. Und dafür bezahlst du Geld?!“ ) – auf den Weg nach Santa Marta gemacht; denn da sollte die Tour beginnen. „Lost City Trek“: Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie in einem Indiana-Jones-Film.

Und der einzige Weg, die Ciudad Perdida zu erreichen ist tatsächlich: Zu Fuß. Drei Tage rein in den Dschungel und zwei Tage Rückweg. Meine Gruppe bestand, abgesehen von den drei kolumbianischen Guides (ohne Guía darf man da grundsätzlich nicht rumirren), aus insgesamt 14 Personen und fünfeinhalb Nationen (Holland, Australien, Irland, USA, Deutschland, Ägypten); manche waren Freunde oder Verlobte oder Reise-Bekannte, andere wie ich alleine mit dabei. Spätestens am zweiten Abend aber, als wir alle zusammen bei Kerzenschein Lieder gesungen haben, sind wir sowieso zu einer großen, glücklichen Familie geworden ;) .
Sehr interessante Menschen waren da mit von der Partie, die Gespräche sind nie langweilig geworden. Wenn man denn Atem zum Sprechen hatte. Gleich am ersten Tag zum Beispiel ging es (in der karibischen Schwüle) so brutal bergauf, dass ich kurz gezweifelt habe, ob ich nicht doch besser direkt wieder umdrehe. Da ich erst einmal in meinem Leben einen solchen Mehrtages-Hike gemacht habe, war ich auch noch nicht besonders erfahren im Rucksackpacken. Die alten Hiking-Hasen haben mich zum Beispiel ausgelacht, weil ich Shampoo mitgenommen habe. Unnötiges Gewicht.

Während wir am Starttag noch an ein paar vereinzelten Häusern vorbeigekommen sind – und an zig ehemaligen Kokain-Feldern – ging es ab der ersten Übernachtung (in Hängematten unter einer Überdachung) tiefer und immer tiefer in den Dschungel. Dem Verlauf des Buritaka-Flusses folgend, den wir unzählige Male durchwaten und einmal in einem lustigen, wenn auch etwas furchteinflößenden  Wackelgestell überqueren mussten (siehe Foto), kamen wir unserem Ziel dann immer näher.



Und schließlich, an Tag Drei, hatten wir plötzlich nur noch die 1.200 moosüberwachsenen Steinstufen vor uns, die noch aus den alten Tayrona-Zeiten stammen.
Ein irres Gefühl, dass außer uns (und ein paar Soldaten, die dauerhaft in der verlorenen Stadt stationiert sind) wirklich niemand da war. Eine touristische Attraktion, die nur zu Fuß erreichbar ist bleibt glücklicherweise auch eine, die man in Ruhe genießen kann. Dass 2003 ein Touristen-Grüppchen mitten aus der Ciudad Perdida von Guerillas entführt wurde, habe ich (und somit auch mein Vater) glücklicherweise vorher nicht gewusst. Jetzt, wo das Militär da ist, war aber alles sicher, keine Sorge. Eine gute Gelegenheit, auch generell mal einzuwerfen, dass Kolumbien in den letzten Jahren zu einem ziemlich sicheren Land für Reisende geworden ist. Soll heißen: Ein Backpacker muss hier nicht mehr (aber auch nicht weniger) Vorsicht an den Tag legen, als zum Beispiel in Peru oder Equador.

Auf dem Haupt-Monument der Ciudad Perdida (siehe Foto), saß ich dann noch eine Weile mit ein paar wenigen andern. Genau da, wo die Tayronas vor Hunderten von Jahren, ihre wichtigsten Rituale abgehalten haben. Aber mehr noch habe ich einfach nur genossen, was um mich herum ist. Der Blick nach vorn: In der Ferne ein Wasserfall zwischen all dem Grün. Wenn ich mich zur Seite drehe: Ein in Nebel gehülltes Tal, rechts und links davon: Hügel, Hügel, Hügel… „Nichts als majestätische, grüne Hügel von Dschungel.“

Faszinierend, so tief im Regenwald zu sein und so weit weg von all den anderen Menschen. Manchmal, wenn wir mal wieder am Buritaka-Ufer entlangliefen, habe ich mir vorgestellt, wie das Ganze von Oben aussehen würde. Dschungel. Zoom: Ein Fluss im Dschungel. Zoom: Ein kleines Grüppchen von Menschlein, die da mitten durch all das Grün stapfen. Alle schmutzig und stinkend, aber sehr zufrieden. Am Ende des Tages kamen wir immer an einer breiten Fluss-Stelle oder einem Wasserloch vorbei. Zur willkommenen Abkühlung gab’s grundsätzlich noch eine kleine Show gratis dazu, weil die waghalsigen Jungs sich die höchsten Klippen zum Rückwärtssalto-Machen ausgesucht haben. Und abends dann, schön geduscht (und mit nach Shampoo duftenden Haaren – ha!), jeder in seinem einzigen sauberen Outfit eingemümmelt: Holländische Kartenspiele lernen, lecker essen Liedchen trällern, spannende Zukunftspläne und lustige Reise-Erlebnisse austauschen…

Als wir dann am fünften Tag wieder in der Zivilisation gelandet sind haben wir uns alle im gleichen Hostel eingenistet und uns bei bester Pizza Kolumbiens (gefunden in einer finst’ren Seitengasse Tagangas) selbst gefeiert. Ein paar von der Truppe sind mich in den Wochen danach sogar noch in Cartagena besuchen gekommen und für einige von uns ging’s am nächsten Morgen auch direkt zusammen weiter: In den Tayrona-Nationalpark. Wo Dschungel auf karibisches Meer trifft. Wo außerdem gerade ein Freiwilligendienst-Seminar stattfand, an dem meine beiden Collegas Gitti und Daniela sowie noch elf andere Deutsche teilgenommen haben, die mit ihren Freiwilligendienst über das weltwärts-Programm machen. Bin schön pünktlich zum Ende des offiziellen Seminarteils dazugestoßen, sodass uns drei gemeinsame Tage blieben, in denen wir einfach nur entspannen konnten. Schnorcheln, schwimmen, Gitarre am Strand. Hier also die Traum-Bucht. Ein würdiger Abschied vom karibischen Meer, fand ich.


Und dann verblieben noch zweieinhalb Wochen für einen würdigen Abschied von Cartagena. Besonders von San Francisco, unserem Stadtviertel. Eigentlich ist es nicht besonders empfehlenswert, hier mit der Kamera spazieren zu gehen, aber gestern hab‘ ich es dann (mit einem Freund, der auf mich aufgepasst hat) zum Abschluss doch mal gemacht, damit ich ein bisschen zeigen kann, wo ich hier eigentlich lebe:

Das große Holzhaus ist unser Colegio (mein Zuhause).


Die "Tienda", der Tante-Emma-Laden, an dem wir tagein, tagaus unsere Milch und unsere Schokolade kaufen. Manchmal auch Cola.



Mario und Silvia, die Tienda-Besitzer und ihr Sohn Gabriel, einer unserer Schüler.




Das ist meine Straße, sie sieht sehr anders aus, als das beeindruckende Stadtzentrum von Cartagena, aber ich liebe San Francisco. Ich weiß genau, an welchen Stellen man über Löcher springen muss, um nicht in einer Dreckspfütze zu landen und welches Kind mir aus welchem Haus "Seño, Seño!" zurufen wird.

Und jetzt ist meine Zeit hier also wirklich vorbei.

Ich habe gelernt, eine Sprache fließend zu sprechen, die ich schon können wollte seit ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal ein Shakira-Lied gehört habe (die Gute war hier vor einer Woche quasi um die Ecke und hat in einem Nachbarsviertel den Grundstein für eine weitere Schule gelegt – da schließt sich der Kreis). Den Gasherd kann ich mittlerweile furchtlos-routiniert anmachen und anschließend sogar echtes Essen darauf zuzubereiten. Mir sind ein paar Lichter über meine Schwachstellen aufgegangen, aber zum Glück auch über die Stärken – ich würde behaupten, ich kenne mich selbst jetzt um Einiges besser. Habe mich erfolgreich darin geübt, den Taxi-Preis auf ein Minimum herunterzuhandeln. Und sämtliche Zahlen durch 2,5 zu teilen (1 Euro = 2.500 kolumbianische Pesos). Sich gegen die wilde Horde im Klassenraum durchzusetzen war bis zum Ende eine Herausforderung, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich am Anfang dachte, ich würde niemals alleine unterrichten können. Zum Glück lag ich falsch. Und kann sogar einen Haufen Liebesbriefe von den Kindern mit nach Hause nehmen. „Beste Lehrerin der Welt“ steht auf einem. Leicht übertrieben, aber sehr süß ;) .

Ich liebe das Gefühl, zur richtigen Zeit genau am richtigen Platz zu sein. Wenn ich mir diese acht Monate so ansehe, gibt es daran keinen Zweifel.
Irgendwie geht damit ebenso die Gewissheit einher, dass Gott auch nach Kolumbien gute Dinge mit meinem Leben vorhat und ich bin schon gespannt auf all das, was jetzt so kommt.


Aber morgen muss ich mich dann erstmal tatsächlich von meinen Freunden hier verabschieden. Am Wochenende haben sie mich schon mit einer kleinen Abschiedsfeier überrascht und mir ein Plakat mit Fotos und persönlichen Nachrichten von jedem Einzelnen geschenkt. Bisschen weinen hab ich also schon hinter, den Flughafen-Moment aber noch vor mir.

Es gibt hier jetzt Menschen, die mich sehr lieben und die ich sehr liebe. Von allem, was ich über meine Erlebnisse und Erfahrungen in Kolumbien erzählen könnte, bleibt das das Allerschönste.

1 Kommentar:

  1. Super Bilder und du schreibst auch ganz toll
    hat Spaß gemacht es zu lesen :)
    liebe Grüße
    Theresa

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